1. Wenn das Unsichtbare wirkt
In vielen Teams scheint auf den ersten Blick alles zu stimmen: klare Strukturen, definierte Rollen, ein professioneller Umgangston. Und trotzdem ist die Stimmung angespannt - Reibung entsteht, leise, aber spürbar.
Die Ursache liegt meistens nicht in offenen Konflikten, sondern in ungesagten Erwartungen und falschen Annahmen. Erwartungen, die nie ausgesprochen wurden. Und Annahmen, die für Wahrheiten gehalten werden.
Beides zusammen wirkt wie ein stilles Gift: langsam, unsichtbar, aber destruktiv.
2. Das Paradoxon der professionellen Höflichkeit
Gerade in professionellen Umfeldern wollen Menschen höflich, respektvoll und diplomatisch sein. Das ist grundsätzlich gut - führt aber oft dazu, dass Dinge nicht ausgesprochen werden, die eigentlich gesagt werden müssten.
Beispiele:
- „Ich wünsche mir mehr Feedback.“
- „Ich brauche Klarheit über Prioritäten.“
- „Ich fühle mich übergangen, wenn Entscheidungen ohne Rücksprache getroffen werden.“
Diese Sätze bleiben oft unausgesprochen - stattdessen zieht sich jemand zurück, verliert Motivation oder sucht sich innerlich schon den nächsten Job.
Unausgesprochene Erwartungen verschwinden nicht. Sie schreiben sich still mit - in jede Interaktion.
3. Die gefährlichste Annahme: „Ich weiß doch, wie er tickt“
In meinen Coachings und Workshops mit Führungsteams beobachte ich ein immer gleiches Muster: Viele Missverständnisse entstehen, weil man glaubt, den anderen zu kennen. Ironischerweise wird das Problem mit der zunehmenden Anzahl der Jahre, die man zusammenarbeitet, eher größer als kleiner.
Man denkt zu wissen, was die Kollegin will, was der Chef denkt oder wie der Partner im Führungsteam eine Entscheidung meint. Das eigene Handeln wird danach ausgerichtet und erst Wochen, Monate oder sogar Jahre später stellt sich heraus: Man lag daneben.
Ich sage in diesen Momenten oft:
„Die wichtigste, einfachste und gleichzeitig am häufigsten vergessene Regel lautet: Sprecht miteinander. Fragt euer Gegenüber.“
Klingt banal - ist aber der Kern funktionierender Kommunikation.
4. Ein Beispiel aus meiner Praxis
In meiner Arbeit als Personalberater passiert mir das selbst regelmäßig: Ich sehe ein LinkedIn-Profil und denke: „Für diese Rolle ist sie oder er zu seniorig - das wird nicht interessant sein.“
Aber dann halte ich inne. Woher weiß ich das, bevor ich gefragt habe? Tatsächlich haben sich aus genau diesen Gesprächen oft großartige Besetzungen ergeben. Weil sich herausstellte, dass jemand gerade weniger führen, dafür wieder mehr selbst gestalten wollte. Oder nach Sinn statt Status suchte.
Selbst Kunden sagen mir manchmal:
„Den brauchst du gar nicht anzusprechen - der ist ein bis zwei Level zu hoch für die Rolle.“ Meine Antwort ist dann immer dieselbe: „Lass es uns herausfinden.“
Fragen statt vermuten - das ist echte Kommunikation.
5. Warum das Ansprechen Mut braucht
Erwartungen zu erfragen oder Unsicherheiten offen anzusprechen, ist manchmal unangenehm. Viele Menschen vermeiden es, weil sie nicht unwissend oder blöd dastehen möchten. Es lohnt sich aber IMMER: Man zeigt, dass einem etwas wichtig ist - und die andere Person wird dies NICHT als Schwäche wahrnehmen. Wenn doch, liegt das Problem bei ihr, nicht beim Fragenden.
Die Kosten des Schweigens sind in jedem Fall langfristig höher als die Kosten der Überwindung zu einem ehrlichen Gespräch. Denn jedes Missverständnis, das bestehen bleibt, frisst Vertrauen und Vertrauen ist die Grundlage jeder funktionierenden Zusammenarbeit.
6. Was gute Führung tun kann
Gute Führung erkennt: Klarheit über Erwartungen ist keine Kür - sie ist Pflicht.
Drei einfache, aber wirksame Fragen helfen:
- „Was brauchst du von mir, um deinen Job gut machen zu können?“
- „Was erwartest du?“
- „Was sollten wir voneinander wissen, damit Zusammenarbeit gelingt?“
Solche Gespräche sind manchmal unangenehm, aber sie schaffen Verbindung, bevor Missverständnisse entstehen.
7. Mein Impuls
- Wo in deinem Umfeld bestehen unausgesprochene Erwartungen?
- Wo glaubst du zu wissen, was andere denken und liegst vielleicht daneben?
- Welche Energie würde frei, wenn ihr Dinge einfach klar ansprecht?
Führung beginnt nicht mit Antworten, sondern mit Fragen. Nicht mit Annahmen, sondern mit echtem Interesse.
Offene Erwartungen schaffen Vertrauen. Ungesagte Gedanken trennen.