Blick unter die Oberfläche: mein Gespräch mit Dr. Simone Burel
Dr. Simone Burel analysiert die Sprache von Unternehmen, Organisationen, Institutionen und ihren Protagonist:innen. Ihr Unternehmen LUB hat ein Team von zehn festen Mitarbeitenden, die datenbasiert Sprache analysieren, Organisationen beraten, schulen und bei der Textproduktion unterstützen. Wie ich mein Gespräch mit ihr zusammenfassen könnte? Hätte sie die WirecardGeschäftsberichte analysiert, wäre ein Set an hochinteressanten Risiko-Indikatoren entstanden, davon bin ich überzeugt. Ich habe Sprache immer geschätzt – und trotzdem unterschätzt. Was mir nicht klar war: Sprache ist Strategie oder legt sie unbewusst offen.
1. Die Texte in Geschäftsberichten verraten oft mehr als die Zahlen
„Alle schauen auf die Zahlen im Geschäftsbericht, dabei verrät der Text viel mehr“, sagt mir Simone Burel gleich zu Anfang unseres Gesprächs. Achtzig Prozent der Informationen befänden sich im Text. Mit ihrem zehnköpfigen Team untersucht Simone Burel u.a. so genannte „Filler“ und Code-Wörter, die an Schlüsselstellen eingesetzt werden, sowie das Inventar an so genannten „Hochwertwörtern“, die häufig und in ähnlichen Mustern verwendet werden. „Linguistik ist die naturwissenschaftlichste aller Geisteswissenschaften“, erklärt sie mir. Linguistische Diagnostik wird heute auf der Basis von KI von Wirtschaftsprüfungen eingesetzt und in der Medizin genutzt, um Indikatoren für Depressionen und Alzheimer zu identifizieren.
2. Unternehmen gleichen sich einander an bis hin zu semantischen Leerformeln
Ein Großteil der Wirtschaftskommunikation geht am Ziel vorbei. „Sie schafft es nicht, die Menschen durch einzigartiges Vokabular abzuholen.“ Wenn es zum Beispiel heißt ‚Wir machen‘, weiß Simone Burel, dass das Wort ‚Zukunft‘ folgt. Hier wird eine Beobachtung, die viele kennen, klarer: Semantisch leere Formeln ‚trenden‘ geradezu in Geschäftsberichten, weil sich Unternehmen sprachlich einander angleichen.
Derzeit hervorragend beobachten kann man das in der Politik, finde ich: Die Sprache von Robert Habeck und Annalena Baerbock unterscheidet sich so auffällig von der ihrer Koalitionspartner, dass jedes zweite große Medium, vom SPIEGEL und bis zur WELT, ihr prominente Artikel gewidmet hat. Ihre Art zu sprechen steht in starkem Kontrast zum Bundeskanzler. Ich frage mich wie Parteien, aber auch Unternehmen so viel in ihre Marke und ihr Marketing investieren können, wie sie es tun, um das Ganze dann sprachlich zu verwässern. Simone Burel und ihr Team untersuchen mit einer Language Fit Analysis, ob sich der Markenkern einer Organisation in ihrem Sprachmaterial spiegelt.
3. Recruiting ist geprägt von vielen unbewussten sprachlichen Signalen
Gender Codes prägen das Recruiting. Kommunale Wörter bezeichnen Wörter, die weiblich konnotiert sind, agentische Wörter solche, die männlich konnotiert sind. Erstere kommen aus einer gemeinschaftlichen Perspektive. Team, Vertrauen und Kooperation sprechen stärker Frauen an. Agentische Wörter transportieren die Perspektive des (aktiven, starken) Individuums. Sie dominieren noch immer Stellenanzeigen für Führungspositionen. Durchsetzungsvermögen, Entschlossenheit und Autonomie rufen – auch bei Frauen – eher männliche Stereotype ab.
Inklusive Stellenanzeigen enthalten einen Mix aus männlich und weiblich konnotierten Wörtern. „Es ist gar nicht möglich, wenn ich eine Führungsposition habe, nur kommunale Begriffe einzusetzen“, sagt Simone Burel. Selbst Substantive wie Leadership, Management und Veränderung seien in unserer Gesellschaft immer noch männlich konnotiert. „Ideal ist ein Mix aus männlich und weiblich konnotierten Wörtern, mit dem Ziel, das Missverhältnis aufzulösen.“
Wir müssen mit der Realität, d.h. mit gesellschaftlichen Stereotypen arbeiten. Leadership ist heute leider noch kein weiblich konnotiertes Wort. Simone Burel ist pragmatisch: „Wir müssen mit dem arbeiten, was wir vorfinden.“ In ihren Augen kann es sogar sein, dass wir in fünfzig Jahren zum generischen Maskulinum zurückkehren, wenn es ein generisches „Humanum“ geworden ist, also nicht mehr automatisch im Kopf mit männlichen Stereotypen verbunden wird.
Viele jüngere Talente lehnen es ab in einer Firma zu arbeiten, die Gender und Diversity nicht auf dem Schirm hat. Das Porträt des klassischen Alpha-Tiers in der Stellenanzeige kann somit junge Talente abschrecken. Eine Entwicklung, die langsam zum Mainstream werden wird.
Auch Bewerbungsgespräche sind voll von sprachlichen Signalen. Simone Burel gibt das Beispiel unterschiedlicher innerer Bilder, die wir im Bewerbungsgespräch mit Kandidat:innen hervorrufen können. Ob ich Kandidat:innen nur als „Anwärter/in“ oder als potenziellen Teil des Teams sehe, macht einen Unterschied: „Ich kann so über das Unternehmen sprechen, dass ich die Person mit hineinnehme ins Gebäude, oder so, dass ich sie quasi vor das Gebäude setze und ihr klar mache, was für ein tolles Unternehmen das ist.“ Letzteres sendet deutlich egozentrischere, hierarchische Signale als eine inklusive Perspektive.
4. Leadership sollte nicht hierarchisch sein und kann aus taktischen Gründen auf Kriegsmetaphorik verzichten
Viele Führungskräfte koppeln ihr Durchsetzungsvermögen immer noch an hierarchische Sprache sowie Kriegs- und Kampfmetaphorik. Simone Burel bestätigt meine Vermutung dahingehend. Während HR und Kommunikationsabteilung über Perspektiven, Werte und gemeinsame Erfolge sprechen, halten Executives ihre Mitarbeiter:innen oft auf Abstand und sprechen über Kampf, Durchschlagskraft und Kriegsentscheidendes. Was Simone Burel dann oft hört: ‚Ich brauche aber das Vokabular in meinem Leadership-Bereich, um mich durchzusetzen‘. Das sei auch ein kulturelles Problem. Aber manchmal unterschätzten Führungskräfte das Irritationspotenzial von alternativen Sprachbildern. Begriffe z.B. aus dem Pflanzenbereich (aufblühen, gedeihen, durchdringen) seien ein Beispiel dafür. Damit hätten Führungskräfte die Möglichkeit, das System um sie herum gesteuert zu irritieren, z.B. um Veränderungen herbeizuführen.
5. Bei inklusiver Sprache geht es nicht um Politik oder Bevormundung, sondern um gesellschaftlichen Wandel und ein modernes Menschenbild
Unternehmen können sich zu Inklusion nicht nicht verhalten. Organisationen müssen sich zu der gesellschaftlichen Veränderung verhalten, ob sie Inklusion abbilden, oder nicht. Das ist weniger eine politische, sondern eine ethische Entscheidung für Simone Burel. Sie kennt die Argumente gegen Sprachveränderung in Organisationen. Spätestens wenn es aus der Arbeitsgruppe an verschiedene Abteilungen und den Vorstand geht, kommen Einwände wie „Das versteht doch keiner mehr.“ Mit ihrem Team schult sie Projektverantwortliche auch darin, dem zu begegnen. Bei inklusiver Sprache handele es sich um Sprachwandel, genauso wie beim Duzen in Unternehmen. Das braucht Einordnung und Übung. Mein Learning ist: Inklusive Sprache wird viel zu oft als politische Entscheidung wahrgenommen, nicht als natürliche Veränderungsaufgabe. Wenn laut einer Studie die Mehrheit der deutschen Entscheider denkt, dass konkrete Maßnahmen zur Förderung von Vielfalt am Arbeitsplatz die Belegschaft spalten könnten, dann verstehen sie Sprachveränderung falsch.
Es gibt keinen Goldstandard für inklusive Sprache. Der Rat für deutsche Rechtschreibung empfiehlt zwar das Gendern, nicht aber eine Form und den Umgang damit. Unternehmen bestimmen die Form und den Grad der Sprachveränderung somit selbst. Simone Burel plädiert für Pragmatismus: Wichtig sei sich zu fragen ‚Wer bringt welche Sensibilität mit, und wo fange ich?‘ Es gäbe auch Unternehmen, die bestimmte Wörter vom Gendern ausschließen, weil es für sie wichtig ist. Ihre eigene Rolle sei eine deskriptive, sie verstehe sich als Wissenschaftlerin, nicht als Sprachpolizei. Es gehe in ihrer Analyse darum zu zeigen, was ein Unternehmen sagt, was es damit bewirkt, und welche Risiken eventuell damit einhergehen.
Mein Fazit:
Ich nehme gleich zwei gute Nachrichten für Unternehmen mit:
Organisationen müssen sich nicht einem Kanon unterwerfen, der installiert wird. Sie können schauen, wie sie gesellschaftliche Veränderung sprachlich abbilden, individuell und Schritt für Schritt. Wichtig ist, die Wirkung von Sprache zu verstehen und sich ihrer Wirkung bewusst zu sein.
Sprache ist ein mächtiges strategisches Instrument, das wir noch nicht nutzen. „Sprache ist eine Entäußerung des Denkens“ ist der Leitgedanke von Simone Burels Arbeit. Ich musste bei dem Satz an die Formulierung eines ehemaligen Kollegen in einem deutschen Konzern denken, der in einer Konferenz die anstehenden Kündigungen mit folgendem Sprachbild begründete: „Wir müssen jetzt Ballast abwerfen.“ Bereits damals hat das für Unmut bei einigen Kolleg:innen gesorgt. Man fand die Form falsch. Was zwar nicht thematisiert wurde,, sich aber gleichzeitig offenbarte, war die offensichtlich fehlende Talentstrategie: Wer von Menschen als „Ballast“ spricht, leistet auch in guten Zeiten in der Personalentwicklung meist wenig. Nach dem Gespräch mit Simone Burel erahne ich, was Sprache für die Transformation des Geschäfts leisten kann.