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Data Minded – ganz ohne Algorithmen

Ich kann diesen Satz nicht mehr hören: „Daten sind das neue Öl.“ Dahinter steckt immer ein vages Verständnis und die Vorstellung, dass per se mit Daten immer Geld verdient werden kann. Geschäftsmodell, Produktidee oder echte Kundenbedürfnisse? Nicht so wichtig, auch Startups wissen das. Viele Apps werden heute nur noch gebaut, um sich Daten, Traffic und die nächste Finanzierungsrunde zu sichern. Was aus den Daten mittelfristig entstehen soll, wird überraschend oft nicht hinterfragt. In Konzernen hieß es auf Nachfrage gern: „Dann machen wir etwas mit KI.“. Das mag ja bei den großen Tech-Playern funktionieren, die über ein hoch einträgliches Werbemodell verfügen und aus Mustererkennung in den Datenmengen präzise Anzeigen aussteuern können. Im Idealfall entstehen sogar Produktinnovationen aus diesen Erkenntnissen. Das ist im deutschen Mittelstand und Konzernen aber eher nicht der Fall.

Daten sind vor allem Informationen

Der Economist-Autor, der 2017 Daten mit dem Ölgeschäft verglich, meinte: Das Daten-Business zeigt ähnliche Strukturen wie das Öl-Business. Zum Beispiel tendiert es ähnlich zur Monopolisierung. Facebook zieht das Kartellamt ebenso an wie Rockefellers Firma Standard Oil bereits 1911 – und Daten machen ähnlich viel Arbeit wie Öl (das Fördern, Raffinieren und Überführen in Produkte für Endverbraucher:innen). Missverstanden wird heute auch gern die grundlegende Natur von Daten: Sie werden gleichgesetzt mit Digitalität. Im Rausch des Öl-Gleichnisses digitalisiert man hierzulande dann Dinge gern völlig am Kunden bzw. am eigenen Unternehmen vorbei. Dabei sind Daten vor allem Informationen. Datenorientiertes Denken bedeutet für mich zuallererst einmal auf Grund von Informationen – statt Gefühlen – zu entscheiden. Dazu brauche ich nicht zwingend digitale Produkte und Algorithmen, im Gegenteil: Eine informierte Entscheidungskultur sollte dem Einsatz von Algorithmen sogar vorausgehen. Denn in einer instinktiven Entscheidungskultur des Bauchgefühls braucht man sie eigentlich nicht.

Mein Bauchgefühl kommt viel schneller zu einer Entscheidung

Wenn man sich fragt, ob eine Vertragsveränderung wohl funktioniert, gibt es eine ganz einfache Möglichkeit zur datengetriebenen Entscheidungfindung: einen A/B-Test. Man vergleicht einfach die Abschlussrate der Vertragsversion A mit dem Erfolg der Version B. Dafür reichen die Standard-Tools von Google völlig aus. Jetzt werden einige denken ‚Schön und gut, aber so kann ich nicht über die Expansion des Unternehmens entscheiden.‘ Ich denke, im Prinzip schon. Denn kürzlich traf ich den Verantwortlichen einer sehr erfolgreichen jungen Möbel-Firma aus den USA, die auch in Deutschland aktiv ist. Das Team stand kurz vor dem Eintritt in einen weiteren europäischen Markt, und ich fragte ihn, ob er gespannt sei, wie der Erfolg ausfallen würde. Er erwiderte, das sei nicht sehr spannend, da ziemlich genau absehbar. Dem Markteintritt vorausgegangen war umfassende Recherche, unzählige A/B-Tests, die das Team mit Erkenntnissen aus der Vergangenheit abgeglichen hat. Sie wüssten ganz genau, welcher Input, wann zu welchem Output führe, erklärte er mir. Das nenne ich datengetriebene Geschäftsentwicklung. Es ist eine unglaubliche Fleißarbeit im Kern. Mein Bauchgefühl kommt viel schneller zu einer Entscheidung.

Es kommt schlicht auf das Commitment an, wann immer im Unternehmen Entscheidungen getroffen werden, sie auf messbaren Informationen fußen zu lassen – und konsequent nach den Ergebnissen zu handeln. Das ist in meinen Augen ein Dreh- und Angelpunkt für Data Mindedness: Informationen den Vorzug vor dem eigenen Bauchgefühl zu geben, statt sie zu sammeln, um instinktive Entscheidungen zu rationalisieren. Warum aber tun wir uns so schwer damit?

Der Fehler hat System - Data Biases: Zwei gängige Fehlurteile

Natürlich können wir bei Entscheidungen Informationen heranziehen, Hypothesen aufstellen, Erfahrungen gegeneinander legen – aber das ist nicht unser Primärinstinkt. Unser Gehirn folgt der Logik der Evolution: Es führt uns schnell und energiesparend zu einem Urteil. In einer Welt, in der es nicht mehr um fight or flight für uns geht, führt diese Programmierung allerdings zu systematischen Fehleinschätzungen. Zwei davon habe ich persönlich immer wieder erlebt. Um sie zu beschreiben, finde ich das Konzept der „biases“ aus der Kognitionspsychologie hilfreich (und verwende es hier natürlich frei von jedem wissenschaftlichen Anspruch).

  • Das Top-Level-Bias: Vorstand schlägt Disziplin.

Bauchgefühlentscheidungen sind auf allen Ebenen zu finden, besonders ausgeprägt sind sie aber auf der C-Level-Ebene, so meine Erfahrung: The higher the less educated. Ein Grund ist, dass die Verantwortlichen ihr Bauchgefühl als bewiesen betrachten, weil sie dort angekommen sind, wo sie sind. Wie sehr eine solche instinktive Kultur die Dinge verzerrt, wurde mir in Vorstandssitzungen klar: Wenn zwei Stunden über die neuen Stühle im Büro diskutiert wird, bleibt wenig Zeit, um über eine Milliardeninvestition in Russland zu sprechen.

  • Das Silicon-Valley-Bias: Nichts unter Musk.

Der Halo-Effekt aus der Sozialpsychologie beschreibt, wie wir von bekannten Eigenschaften einer Person automatisch auf unbekannte schließen. Ist der erste Eindruck positiv, beurteilen wir den Rest gern ebenso, ohne Belege dafür. Wir formen einen „Heiligenschein“. Kaum irgendwo ist dieser Effekt besser zu beobachten als bei den Tech-Heiligen Elon Musk, Jeff Bezos und Co. Die großartigen innovativen und unternehmerischen Leistungen führen zu einem Personenkult, ohne dass wirklich an den wichtigen internen Stellschrauben der Digitalisierung gearbeitet wird. Seit Jahren zieht die Fortschrittserzählung des Silicon Valley deutsche Unternehmer als Touristen an. Nach ihrer Reise ins Valley investieren sie eventuell ein paar Hunderttausend Euro in ein Startup, ihre Kultur im Kernunternehmen bleibt davon aber weitestgehend unberührt.

Data Minded: 1 Commitment – 4 Ziele

Data Mindedness beginnt für mich mit dem Commitment, ausschließlich informierte Entscheidungen zu treffen, immer und überall im Unternehmen. Das bedeutet zum Beispiel, Informationen von innen und außen einzuholen, Alternativen zu testen, Risiken gegeneinander abzuwägen und auch Informationen zu kombinieren. Das muss man üben. Warum der Aufwand lohnt? Ich beobachte vier Kompetenzen, die wir nur durch eine informierte Entscheidungskultur erreichen – und dringend brauchen.

  1. Proaktive Risikosteuerung: Wir alle haben die reaktive deutsche Corona-Politik erlebt, meist verbunden mit Gefühlen der Ohnmacht. Trotz ausreichender Informationen im Sommer 2021 hat die Regierung Entscheidungen vermieden, um den Herbst 2021 zu gestalten. Warum das so ist, erklärt der Ökonom, Moritz Schularick, in meinen Augen sehr gut: „Es ist für sie viel einfacher zu handeln, wenn es keine Alternativen mehr gibt und man mit dem Rücken zur Wand steht. Nur ist so keine proaktive Risikosteuerung möglich. Proaktive Risikosteuerung wird aber in den nächsten Jahren im Zuge von Klimawandel und anderen Risiken immer mehr an Bedeutung gewinnen.“
  2. Allianzbildung: Laut einer aktuellen Studie des Capgemini Research Institute planen rund 48 Prozent der Unternehmen und öffentlichen Institutionen weltweit – in Deutschland sogar 64 Prozent – gemeinsame Initiativen für Daten-Ökosysteme. Ähnlich den großen Plattformen wollen sie so (anonymisierte) Daten und Skills zusammenbringen. Aber auch Zusammenschlüsse wie zum Beispiel die Allianz der Chancen gegen den Fachkräftemangel in Deutschland nutzt Kooperation für innovative Lösungen. Informierte Entscheidungskulturen tun sich wesentlich leichter mit Kooperationen, weil sie die rationalen Vorteile erkennen können.
  3. Vertikale Kompetenz: Viele datengetriebener Player, z.B. aus den E-Commerce -Sektor entwickeln Talente in puncto vertikale Kompetenz, wie ich es nennen würde. Dafür rekrutieren sie stärker nach Mindset und Haltung als nach rein fachlichen Referenzen. Zum anderen legen sie Zuständigkeitsbereiche sehr spitz an: Solche Unternehmen suchen zum Beispiel einen Director nur für den Bereich „Paid Search“. Hierzulande sind Kandidat:innen noch breitere Verantwortungsbereiche gewohnt – und erwarten diese auch. Aber das Modell spitzer Expertise und Vertikaler Kompetenz wird den Markt beeinflussen. Denn es entspricht den Herausforderungen von datengetriebenem Business.
  4. Talent-Appeal: Datenorientierte Entscheidungen signalisieren Verbindlichkeit. Informiertes Handeln ist nachvollziehbar. Erst, wenn ich als Unternehmen wirklich sagen kann ‚Bei uns zählen Ergebnisse, nicht Politik‘, rutsche ich auf den Radius bestimmter Talente. Eine informierte Entscheidungskultur könnte zum Bio-Siegel für Arbeitgeber:innen werden.

Mein persönliches Fazit:

Wir sollten nicht über data-driven reden, solange wir Entscheidungen im Unternehmen unserem Primärinstinkt überlassen. Bauchgefühl macht Führungsentscheidungen intransparent und erschwert die Identifikation. Informierte Entscheidungen ergeben per definitionem Sinn, sie sind die halbe Miete von Purpose. Außerdem führen sie zu einer Kultur im Unternehmen, die Menschen anzieht und hält. Das erlebe ich selbst seit Jahren.

Über den Autor

Dr. Sebastian Tschentscher findet mit seiner Executive Search Boutique „Digital Minds“ die besten digitalen Köpfe für Ihr Unternehmen.

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