1. Wenn Delegation wirklich funktioniert
Vor einiger Zeit hörte ich von einem CEO eines E-Commerce-Unternehmens eine bemerkenswerte Geschichte. Seine Firma war von einem kleinen Startup auf über 1000 Mitarbeitende gewachsen – und eines seiner erklärten Ziele war von Anfang an:
„Ich will eine Organisation, die auch ohne mich funktioniert.“
Die Vision und Mission waren für alle verständlich und präsent. Meilensteine waren klar. Innerhalb dieser Leitplanken hatten die Teams weitgehend Autonomie.
Eines Morgens traf der CEO im Aufzug einen Kollegen, den er nur flüchtig kannte. Er fragte: „Woran arbeitest du gerade?“ Die Antwort: „Heute ist ein wichtiger Tag – wir launchen den Markteintritt in Dänemark.“
Dem CEO war nicht einmal bewusst, dass dieser Launch geplant war. Manche würden das als Kontrollverlust bezeichnen – für ihn war es der Beweis, dass sein Führungsansatz funktionierte.
2. Autonomie ist kein Risiko – sondern ein Leistungstreiber
Vertrauen ist kein Verzicht auf Führung. Vertrauen ist Führung durch Klarheit: Ziele, Meilensteine und Entscheidungsprinzipien. Dann Raum lassen.
Autonomie ist einer der stärksten Motivatoren für Leistung, Innovation und Verantwortungsbewusstsein. Wenn Mitarbeitende merken, dass sie nicht nur „ausführen“, sondern gestalten dürfen, entsteht echte Energie.
Doch leider sind solche positiven Beispiele selten – die Realität sieht oft anders aus.
3. Wenn das Vertrauen beim ersten Problem endet
In vielen Organisationen beginnt jedes Projekt mit guten Absichten: „Wir wollen das Team machen lassen.“
Doch sobald das erste Problem auftritt – eine Verzögerung, ein Zielkonflikt, Unsicherheit –, kommt die Wende:
„Jetzt müssen wir eingreifen, sonst geht das schief.“
Und plötzlich werden Entscheidungen wieder von oben getroffen. Anstatt zu moderieren, Fragen zu stellen und die Menschen zur Lösung zu führen, wird aktiv eingegriffen. Das ist nachvollziehbar – aber selten hilfreich. Denn das Signal lautet: „Ich habe dir vertraut – aber jetzt traue ich dir nicht mehr.“
4. Der Klassiker: Nachfolge, die nicht losgelassen wird
Ein besonders typisches Beispiel ist die Unternehmensnachfolge. Ich habe es unzählige Male erlebt:
Nach langem Auswahlprozess wird eine Nachfolgerin oder ein Nachfolger gefunden. Die Übergabe läuft gut an. Der scheidende CEO – oft ein Gründer oder Patriarch – sagt:
„Natürlich wird sich manches verändern. Aber ich vertraue ihm/ihr – das wird schon gut werden.“
Und das klappt – bis zum ersten Anruf.
Ein langjähriger Mitarbeiter meldet sich: „Die Kultur leidet. Der neue Stil passt nicht. Die Stimmung kippt.“ Und nun?
Der richtige Schritt wäre: Mit dem Nachfolger sprechen. Die Beobachtungen einordnen. Unterstützung anbieten
Was aber fast immer passiert: Der Ex-CEO greift zum Hörer, mischt sich ein, initiiert Veränderung – wie er es sein Leben lang gemacht hat. Nicht aus Böswilligkeit – sondern weil es in seiner DNA liegt, aktiv zu werden.
Doch genau das ist der Moment, in dem das Vertrauen zerbricht.
5. Führung heißt: Loslassen können
Gute Führung schafft Rahmenbedingungen, in denen andere Verantwortung übernehmen können:
- Ein klares Zielbild
- Gemeinsame Werte und Spielregeln
- Orientierung, aber keine Steuerung im Detail
Und dann: Vertrauen. Raum geben. Fehler zulassen. Lernen ermöglichen.
Natürlich ist das nicht einfach. Natürlich wird nicht alles reibungslos laufen. Aber das ändert nichts an der Richtigkeit des Prinzips.
Verantwortung kann man nicht „abgeben“ – man muss sie wirklich übergeben.
6. Mein Impuls
- Wo hast du wirklich delegiert – und wo hältst du (noch) fest?
- Traust du deinem Team zu, auch ohne dich zum Ziel zu kommen?
- Wie würdest du reagieren, wenn jemand in deinem Team eine Entscheidung trifft, ohne dich zu fragen – und sie funktioniert?
Wer führen will, muss lernen, auch mal nicht zu führen.