1. Warum Werte auf dem Papier oft stärker wirken als in der Realität
In den letzten Wochen haben wir uns im Executive Briefing intensiv mit Unternehmenskultur beschäftigt - was sie wirklich bedeutet, wie man Werte entwickelt, die wirken, und warum sie konkret und realistisch sein sollten.
Heute möchte ich über einen Aspekt sprechen, der in vielen Unternehmen unterschätzt wird: Werte müssen nicht nur definiert, sondern auch verteidigt werden. Jeden Tag. Gegen den Pragmatismus, gegen den Zeitdruck - und manchmal auch gegen gut gemeinte Ideen. Denn nur dann machen sie wirklich einen Unterschied.
Ein Wert, der zwar an der Wand hängt, aber im Alltag ständig gebrochen wird, ist nicht nur wirkungslos - er untergräbt die gesamte Kultur.
2. Ein Wert, der anders sein sollte als die Branche
In meiner früheren Agenturgruppe haben wir uns bewusst entschieden, einen zentralen Wert zu verankern, der uns von vielen Personalberatungsunternehmen unterschied: Kein interner Wettbewerb.
Das Ziel war klar: Nicht der oder die „Beste“ mit dem höchsten Umsatz sollte im Mittelpunkt stehen, sondern das beste Ergebnis für den Kunden und die Kandidaten - und das funktioniert nur mit echter Zusammenarbeit.
Ein Beispiel: Wenn ein Recruiting-Team einen großartigen Kandidaten gefunden hatte, der aber nicht zu der eigenen Suche passte, wurde dieser nicht für spätere Suchen „geparkt“, sondern aktiv an die anderen Teams weitergegeben. Das bedeutete manchmal, dass jemand anders den Besetzungserfolg hatte - aber am Ende zählte das gemeinsame Ergebnis.
Wir nannten diesen Wert „Ambition meets Quality“: höchste Ansprüche an uns selbst - aber ohne den ständigen Vergleich mit anderen als Maßstab.
3. Die tägliche Verteidigung von Werten
Klingt einfach, oder? In der Praxis war es das nicht. Mehr als einmal habe ich Diskussionen geführt, warum wir keine Ranglisten der erfolgreichsten Mitarbeitenden einführen, keine „Monatsbesten“ küren und keine Einzelstatistiken öffentlich machen.
Natürlich kann das motivierend sein. Natürlich ist es wichtig, Leistung zu belohnen. Aber in unserem Fall hätte es einen klaren Widerspruch zum definierten Wert bedeutet. Und damit wäre dieser innerhalb kürzester Zeit ausgehöhlt worden.
Ein Wert verliert nicht erst dann seine Wirkung, wenn er komplett ignoriert wird - er verliert schon, wenn er nicht konsequent gelebt wird.
4. Die kleinen Ausnahmen, die alles verändern
Das Schwierige daran: Die größten Gefahren für Werte sind oft nicht die großen Entscheidungen, sondern die kleinen Ausnahmen.
Einmal wird doch ein Ranking im Vertrieb erstellt, „nur um mal zu sehen, wo wir stehen“. Einmal wird doch ein Bonus nach individuellem Umsatz vergeben, weil der betreffende "einfach so toll performt hat". Einmal wird doch eine Info zurückgehalten, „um einen kleinen Vorteil für das eigene Team zu haben“.
Jede dieser Ausnahmen sendet eine Botschaft: Der Wert gilt - aber nicht immer. Und genau das merken Teams sehr schnell.
5. Konsequenz ist der wahre Lackmustest für Werte
Einen Wert zu definieren ist leicht. Ihn in einem Workshop zu erklären, ist auch noch einfach. Aber ihn konsequent zu leben - gerade dann, wenn es unbequem wird - das ist die eigentliche Führungsleistung.
Und ja - manchmal weicht man dann doch ab, wenn auch nicht im Arbeitskontext. Bei uns hieß das zum Beispiel: Beim jährlichen Tischtennisturnier gab es tatsächlich einen Gewinner. Aber immerhin einen Gewinner im Doppel - denn Teamgeist sollte auch dort Vorrang haben.
6. Mein Impuls
Schau dir die Werte deines Unternehmens an - und frage dich bei jedem einzelnen:
- Wird dieser Wert im Alltag konsequent gelebt - auch wenn es schwierig, unpopulär oder im Spannungsfeld zu anderen - ebenfalls wichtigen - Kriterien ist?
- Gibt es Situationen, in denen wir ihn bewusst oder stillschweigend brechen?
- Was würde passieren, wenn wir ihn immer verteidigen würden - welche Entscheidungen wären dann anders?
Werte wirken nicht, weil sie aufgeschrieben wurden. Sie wirken, weil sie - jeden Tag, in jeder Entscheidung - verteidigt werden.