Die Elbphilharmonie war viel teurer als geplant, es ging um Hunderte von Millionen Euro Steuergelder. Jahrelang war die regionale und überregionale Presse voll von Berichten über den Planungs- und Bauskandal bis hin zu einem Untersuchungsausschuss. Seit Januar 2017 ist das Konzerthaus fertig und seitdem ist Ruhe. Auch der Flughafen BER ist seit seiner Fertigstellung schlagartig aus den Medien verschwunden. Man muss kein Hellseher sein, um vorherzusagen, dass es bei Stuttgart21 auch so sein wird. Ist ja auch klar, irgendwann muss ein Thema ad acta gelegt werden können und da bietet sich die Fertigstellung bei Bauprojekten als offizieller Endtermin der Empörung an.
Einfach zu Ende bringen; dann ist Ruhe
Ich finde es trotzdem bemerkenswert, wie schnell "Kritik am Werdenden" in "Akzeptanz des Bestehenden" umschlägt. Denn zum einen können die Verantwortlichen daraus den fragwürdigen Schluss ziehen, dass einfach Projekte möglichst schnell beendet werden müssen - wie aktuell bei der Nordstream 2 - damit das Thema aus der öffentlichen Diskussion verschwindet. Zum anderen stört mich, dass generell das Werdende gegenüber dem Bestehenden quasi diskriminiert wird.
Apropos Nordstream 2, da wird es besonders deutlich: Ich möchte nicht die Argumente für und gegen den Bau hier aufgreifen und mich schon gar nicht auf die Seite der Befürworter oder der Gegner schlagen. Mir fällt nur eines auf: Das Projekt trägt die Ziffer "2" im Namen, weil es eine weitere Leitung - nämlich die "Nordstream 1" - gibt, die seit Jahren Gas aus Russland ins Deutsche Lubmin transportiert. Auch diese Pipeline ist im wirtschaftlichen und geopolitischen Interesse Russlands und umgeht die Ukraine etc. Wir könnten also, wenn es um Sanktionen geht, genau so gut darüber diskutieren, den Hahn der Nordstream 1 zuzudrehen anstatt über die Fertigstellung der neuen Pipeline zu sprechen. Aber: sie ist ja schon da und deshalb kann man da ja wohl nichts machen. Das Bestehende darf bleiben.
Wenn Autos heute erfunden würden, hätte der Verbrenner keine Chance
Offenbar ist es tief in uns, größere Veränderungen zu kritisieren und Vorhandenes zu verteidigen - auch bei neuen Technologien: Die Elektromobilität im Automobilsektor kämpft seit über 10 Jahren gegen die immer gleichen Bedenken an: zu wenig Reichweite, keine ausreichende Ladeinfrastrukur und sogar die Sicherheit von Batterien bei Unfällen wurde in Frage gestellt und des Öfteren von einer brennenden Batterie im Tesla berichtet. Bei letzterem Punkt ist wohl kurz in Vergessenheit geraten, dass die Tanks von Autos mit Verbrennungsmotor erst recht entzündlich sind und täglich zu Hunderten in Flammen stehen.
Zu dem Thema möchte ich zu einem kurzen Gedankenexperiment einladen: Als das Automobil in den Kinderschuhen steckte gab es schon einmal batteriebetriebene Vehikel. Aus bestimmten Gründen hat sich dann der Verbrennungsmotor durchgesetzt und die letzten 100 Jahre des Automobilgeschichte dominiert. Mal angenommen wir könnten in der Zeit zurückreisen und würden diskutieren, welche Technologie flächendeckend zum Einsatz kommen sollte - Strom oder Benzin - , was wäre das Ergebnis? Autos, die einen Behälter mit entzündlicher Flüssigkeit aus einem endlichen Rohstoff installiert haben und für die Tausende von Tankstellen gebaut werden müssen? Oder Fahrzeuge mit einer Batterie, die überall geladen werden können, wo Strom ist, der außerdem auf Basis regenerativer Energien erzeugt werden kann. Ich weiß, dass die Diskussion verkürzt und zu sehr vereinfacht ist. Aber auch hier: Das Bestehende wird bevorzugt.
Faire Diskussion über Bestehendes und Werdendes
Diskussionen über Bestehendes und Werdendes sollten fair geführt werden: Argumente wie "das war schon immer so" oder "etwas ist üblich" sind keine. Die einzig relevant Frage ist: Kann das Bestehende verbessert werden, weil der künftige Zustand mehr Vor- als Nachteile gegenüber dem Status Quo bietet? Das gilt übrigens auch für die Digitalisierung. Sie ist kein Selbstzweck, sondern soll die Welt besser machen. Dafür muss Bestehendes hinterfragt werden dürfen. Umgekehrt ist nicht alles besser, was anders ist, nur weil eine App zum Einsatz kommt.