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Feinde des Fortschritts Teil 3: Der Blick von oben

Von meinem Wohnzimmer aus kann ich auf Deutschlands zweitgrößte Stadt blicken. Wenn ich abends so auf Hamburg schaue, frage ich mich manchmal, was jemand vor 40 Jahren sah, der genau aus derselben Wohnung abends heruntergeschaut hat. Damals stand das Hochhaus, in dem ich wohne, erst wenige Jahre. Die Antwort ist beruhigend und ernüchternd zugleich: So ziemlich dasselbe.

Die Welt im Jahr 2021 ist einerseits eine völlig andere als 1981 und der Fortschritt hat unseren Alltag stark verändert. Andererseits: Was sieht man davon, wenn man abends auf eine große deutsche Stadt blickt? Einige Gebäude sind hinzugekommen, andere stehen nicht mehr oder sehen anders aus. Im Dunkeln kaum erkennbar. Die Lichter der Autos sind heller und die Anzeige der Tankstelle ist inzwischen digital. Man muss schon genau darauf achten und würde als Zeitreisender die Unterschiede zwischen damals und heute wahrscheinlich kaum wahrnehmen.

Die Smartphones, auf die wir jeden Tag stundenlang schauen, die leistungsstarken Rechner, die neuen digitalen Plattformen und sozialen Netzwerke - nichts von alledem ist von oben zu sehen. Ich erinnere mich noch an eine Illustration aus einem Schulbuch meiner Kindheit: Das Jahr 2000 war dargestellt mit neuartigen Transportmitteln aller Art, die Menschen und Güter durch die Luft transportierten. Nichts von dem gibt es heute in unseren Städten, auch nicht 21 Jahre nach dem Jahrtausendwechsel.

Was lässt sich daraus ableiten? Innovation findet vor allem im Bereich der Software und "abgrenzbaren Hardware" statt

Besonders groß sind die Fortschritte und technischen Errungenschaften, wenn es um Software geht oder um Geräte, die ein Unternehmen von A bis Z entwickeln kann. Also ein Handy oder ein Auto. Sobald es komplexer wird (z. B. bei ganzen Gebäuden), ist es schnell vorbei mit dem Fortschritt. Dann wird es zu kompliziert oder zu teuer oder beides. Die Smart Home - Anwendungen sind hierzulande jedenfalls meistens auf einzelne Geräte oder Anwendungen begrenzt: Hier ein schlauer Thermostat, dort ein steuerbarer Lichtschalter. Aber ein wirklich modernes Gebäude, komplett vernetzt, automatische Türen, eine zentrale Absauganlage für Staub und Müll, wo gibt es sowas? Ich kenne solche Gebäude nicht. Bei uns gibt es tatsächlich einen Müllschacht, durch den man seinen Abfall aus bis zu 100 Meter Höhe herunterwerfen kann. Heute wäre das aus Brandschutzgründen nicht mehr zulässig und eine moderne Variante so einer Anlage gibt es auch nirgendwo. Wir tragen unseren Müll also in den Keller und zur Straße wie vor 150 Jahren.

Wenn man sich fragt, welche Geschäftsmodelle wohl erfolgreich und weltweit skalierbar sein werden, wundert es daher nicht, dass alle auf Software und "abgrenzbare Hardware" setzen. Sobald komplexere Dinge oder gar Infrastruktur betroffen ist, glaube ich nicht an den schnellen Wandel. So großartig die Errungenschaften von Tesla und SpaceX sind, ich befürchte, dass sich Elon Musks "Boring Company" beim Tunnelbau schwerer tun wird in Sachen Disruption. Ich wünsche mir hier übrigens sehr, dass ich Unrecht habe.

Jeder sieht den Grad an Veränderung, den er oder sie sehen möchte

Manchmal wundere ich mich, dass einige Menschen vom Fortschritt fasziniert sind und an einen rasanten Wandel in der künftigen Welt glauben, andere aber eher davon ausgehen, dass im Wesentlichen alles so bleibt wie es ist. Wir leben schließlich alle in derselben Welt, wie können die Sichtweisen da so verschieden sein? Die Antwort ist simpel: Je nachdem, was ich betrachte: Wenn ich den Blick von oben wähle und die große Infrastruktur betrachte, hat sich quasi nichts verändert, wenn ich mal kurz mit meinem Handy einen E-Scooter buche, der mir nicht gehört und mich dann mit der Navigation durch die Stadt leiten lasse, ist alles anders als früher.

Die westliche Welt bewegt sich langsamer

Mein "Blick-aus-dem-Fenster" - Beispiel funktioniert in Hamburg und in Paris. In Dubai oder einer beliebigen chinesischen Millionenstadt wäre das Ergebnis genau umgekehrt: Ein Zeitreisender von 1981 würde nicht mal erkennen, dass er in derselben Stadt ist. Ich gehöre zwar nicht zu denen, die pessimistisch beklagen, dass "die alte Welt" immer mehr von Asien abgehängt wird. Gleichzeitig befürchte ich schon, dass der Geist in einem statischen Umfeld einer europäischen Stadt insgesamt weniger agil und veränderungsbereit ist.

Ich werde weiter abends aus dem Fenster schauen und bin gespannt, wann die ersten Drohnen Pizza ausliefern und Flugtaxen die Menschen zum Feiern nach St. Pauli und dann zurück in die Elbvororte bringen. Vielleicht erlebe ich ja noch, dass die Welt so wird wie im Schulbuch meiner Kindheit.

Über den Autor

Dr. Sebastian Tschentscher findet mit seiner Executive Search Boutique „Digital Minds“ die besten digitalen Köpfe für Ihr Unternehmen.

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