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Warum braucht es überhaupt ein Coming-out im Berufsleben?

Diese Frage haben mir liberale, progressive Menschen öfter gestellt. ‚Das ist doch kein Problem und außerdem Deine Sache‘, so ihre Logik. Menschen, die der Mehrheit entsprechend leben, kennen die Notwendigkeit nicht, sich definieren und einordnen zu müssen. Wenn Du anders bist, wirst Du ständig damit konfrontiert: Zum Beispiel, wenn ich vom Urlaub erzähle und gefragt wird ‚Warst Du mit Deiner Freundin dort?‘, vom Wochenende ‚Mit wem warst Du unterwegs?‘, oder wenn es im Kreis von Männern über eine Firmen-Veranstaltung heißt: ‚Abends ist es dann mit Frauen‘. Das alles hat in meinen Augen nichts mit Diskriminierung zu tun. Was fehlte und manchmal heute noch fehlt sind andere Vorbilder im Unternehmen, andere Lebensentwürfe.

Ein Coming-out ist für die Mehrheit nicht so wichtig, für diejenigen, die abweichen schon. Niemand will acht Stunden am Tag einen Teil seiner Identität abspalten. Und trotzdem hat es bei mir drei Arbeitgeber lang gedauert, bis ich mich offen dazu bekannt habe, anders zu leben, und das hat mehrere Gründe. Es ist nicht der Fehler meiner Arbeitgeber gewesen, sondern in erster Linie meine eigene Hürde im Kopf und trotzdem kann es leichter werden in Zukunft.

‚Sag es doch einfach!‘

Das habe ich immer wieder zu mir selbst gesagt, vor meinem ersten beruflichen Coming-out. Der Punkt meiner Geschichte ist, dass ich viele Jahre in Beziehungen mit Frauen war und erst 2010 meinen Freund und heutigen Partner kennengelernt habe. Das heißt, ich hatte eine 180-Grad-Wende mitten im Berufsleben zu verarbeiten, persönlich und im privaten Umfeld. Auch als ich zwei Jahre nach dieser persönlichen Wende in ein sehr modernes Unternehmen gewechselt habe, war ich anfangs noch nicht soweit, mich mitzuteilen. Irgendwann hatte ich dann gefühlt den Punkt verpasst.

Drei Jahre später habe ich abermals eine Position in einem anderen Unternehmen angenommen. Mein Umfeld dort fühlte sich nicht wie das richtige Biotop für ein Coming-out an – und das werfe ich nicht meinem Arbeitgeber vor. Es ist so: Wenn das Umfeld sehr homogen ist, wenn alle verheiratet sind und Kinder haben, bedeutet das Coming-out, dass man heraussticht, besonders ist. Man ist nicht der eine andere, man ist der einzige andere. Man weiß das über Teenager, dass sie in einem gewissen Alter einfach nur eintauchen wollen in ihre peer group, nicht auffallen und nicht herausstechen. Ich denke bei Erwachsenen ist das oft auch noch so. In einem bestimmten Bereich anders zu sein, bedeutet Aufmerksamkeit, Gesprächsthema zu sein, viele Fragen zu beantworten, explizite und implizite. Manche können und wollen das gerne und tun es. Ich wollte das erstmal nicht. Heute denke ich: Gerade in sehr homogenen Umfeldern braucht es Coming-outs, braucht es Vorbilder, die anders sind.

Als ich schließlich 2018 erneut den Job wechselte, stimmten alle Variablen für mich: Ich selbst war soweit und traf auf ein Umfeld lauter sehr unterschiedlicher Charaktere.

Gegen das statistische Wunder arbeiten

Jede Geschichte ist anders, jede/r geht anders mit einem Coming-out um. Ich war ein anderer Typ als ein ehemaliger Kollege von mir, der sich früher geoutet hat, persönlich und beruflich. Wie er bin ich überzeugt: Wir brauchen mehr Coming-outs. Nur so entsteht ein realistisches Bild in Unternehmen. Als dieses Jahr der englische Profifußballer Jake Daniels sich öffentlich zu seiner Homosexualität bekannte, fragte stern.de „80 bis 120 Spieler in der ersten bis dritten Bundesliga sind schwul, ist es nicht seltsam, dass wir keinen einzigen davon kennen?“ Das Medium hatte statistische Schätzungen zum Anteil von Homosexualität in der Bevölkerung auf die Bundesliga heruntergebrochen.

Nicht viel anders ist die Realität in sehr maskulin geprägten Branchen abseits der Großstädte und CSD-Trucks. Wenn ein Unternehmen - wie aktuell ein Sanitätsdienstleister – einen „Geschäftsführer“ sucht, einen „energischer Macher mit jungenhafter Neugier“, dann bin ich sicher, der Arbeitgeber (der männlich sein wird) hat keine Ahnung wie viele männliche Kandidaten er damit unbewusst ausschließt (Frauen schließt er ja bewusst aus).

Regenbogenflaggen, kleine Schritte und Konsequenzen

Es hat mich gefreut, als ich sah, dass mein ehemaliger Arbeitgeber dieses Jahr den CSD unterstützt hat und ich dachte kurz ‚Wenn ich dort geblieben wäre, hätte ich diesen Schritt mitgehen können.‘ Es muss aber gar nicht das CSD-Engagement sein, kleine Schritte reichen. Es hilft, ein gewisses ‚Nerd-tum‘ zuzulassen im Unternehmen, so dass Eigenheiten nicht hinter einer professionellen Fassade versteckt werden müssen. Eine offenes, sicheres Umfeld zu gewähren ist auch eine Entscheidung auf Executive-Level. Diskrimierung in der Zusammenarbeit mit Kunden gegen Minderheiten, erlebe ich zum Glück nur sehr selten. Was wir jedoch häufig vorkommt ist Ageism, also dass eine Führungskraft nicht älter als 35 sein soll. In solchen Fällen gilt es, klar Stellung zu beziehen und notfalls auch die Zusammenarbeit zu beenden.

Über den Autor

Dr. Sebastian Tschentscher findet mit seiner Executive Search Boutique „Digital Minds“ die besten digitalen Köpfe für Ihr Unternehmen.

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